Picknickdecken, Zukunftsgeflüster & das Comeback von Tarot
- Michelle Fischer
- 26. Mai
- 4 Min. Lesezeit
Seit einigen Wochen tauchen in meinem Social-Media-Feed immer mehr Videos auf, in denen jemand Tarot-Karten legt. Und ich meine jetzt nicht die Videos von professionellen Kartenleger:innen, die ein ganzes Set auf ihrem Tisch ausgebreitet und die Karten in komplizierten Abfolgen ziehen und wieder ablegen.
Ich meine Videos von jungen Frauen in ihren Zwanzigern, die luftige Röcke und gehäkelte Pilzmuster-Kopftücher tragen und ihre Karten auf einer Picknickdecke mitten in einer Wiese ausgebreitet haben. Manchmal sind sie alleine, oft in einer kleinen Gruppe – und sie kichern und schnappen nach Luft, wenn jemand eine aufregende Karte zieht.
Als Zuschauer:innen sehen wir meistens nicht, was für Karten gezogen werden. Darum scheint es auch gar nicht zu gehen. Die Tarotkarten sind Teil eines grossen Gesamtbilds, eine Requisite in dieser tief weiblichen Spähre, in der Frauen zusammenkommen und sich gemeinsam ausmalen, welchen Lauf ihr Leben wohl nehmen wird. Mache ich eines Tages gross Karriere? Habe ich bald Glück in der Liebe? Werden meine Wünsche in Erfüllung gehen? Fragen, die uns alle an einem Punkt beschäftigen.
Wieso aber wenden sich diese jungen Frauen ausgerechnet an Tarotkarten?
Als ich noch klein war, waren Tarotkarten nicht unbedingt etwas, das man zu einem Picknick mitbrachte. Tatortkarten waren ein bisschen gruselig. Etwas, das mit Hexen, Satanisten und heimtückischen Wahrsagerinnen zu tun hatte.
Ich muss es ja wissen. Meine Mama war, und ist bis heute, Kartenlegerin.
Den grössten Teil meiner Kindheit über tat sie dies aus einem kleinen Hinterzimmer unseres Hauses heraus. Nicht, dass meine Mutter versteckt hätte, was sie tat. Sie machte es gerne, und sie war gut darin. So gut, dass sie sich über die Jahre eine beachtliche Stammkundschaft aufgebaut hatte. Aber irgendwie sprachen wir nicht mit anderen darüber. Das war nicht so wie die Arbeit meines Vaters.
Da schien es ein soziales Tabu zu geben.
Trotzdem – das Kartenlesen hat mich mein ganzes Leben über begleitet.
Wie jede gute Hexen-Mama hat auch meine Mutter mir das Kartenlegen beigebracht. Zwar nicht Tarot – die mochte sie nicht – sondern Wahrsagekarten nach Marie-Anne Lenormand. Aber die funktionieren, ohne hier zu sehr ins Detail zu gehen, ziemlich ähnlich. Man mischt die Karten, legt sie auf eine bestimmte Art und Weise aus (oder jemand zieht eine) und dann wird gedeutet.
Und so fand ich mich eines Tages von meinen Freundinnen umringt, während wir abwechselnd Karten zogen und sie für einander deuteten. Wie die jungen Frauen in den Videos – nur eben nicht im Park, sondern zu Hause, nachdem die Sonne untergegangen und die Dunkelheit uns Schutz vor unseren Zweifeln gewährte.
So lagen wir manchmal zu zweit, manchmal zu dritt oder zu viert auf meinem grossen Doppelbett, Lichterketten und flackernde Kerzen im Hintergrund. Wir fragten nach unserer Zukunft, nach unserer Karriere, nach unseren Träumen, nach der Liebe, immer wieder, tausendmal nach der Liebe. Wir lachten und staunten und erlaubten uns, von einer Zukunft zu träumen, in der wir alles erreichten, was wir uns erhofft hatten.
Mit Spiritualität hatte das nicht viel zu tun. Aber darum ging es auch überhaupt nicht.
Ich glaubte nie daran, dass die Karten mir meine Zukunft vorhersagen könnten. Nicht, als ich noch klein war und meine Mutter beim Kartenlegen beobachtete, und auch nicht, als ich die Karten selbst austeilte.
Aber mir ging es auch gar nie darum, meine Zukunft zu kennen. Ich legte die Karten nicht, um herauszufinden, an welchem Tag ich meine grosse Liebe treffen oder ob ich die nächste Semesterprüfung bestehen würde. Ich legten sie, um mir eine Zukunft vorstellen zu können. Um meine Intuition ausfinding zu machen und herauszufinden, was ich vom Leben wollte.
Wenn meine Karten mir sagten, dass sich bald eine grosse Veränderungen in meinem Leben anbahnte, freute ich mich da oder hatte ich Angst? Wo glaubte ich, dass die Veränderung anstand – an der Uni, bei der Arbeit, in meinem Privatleben? Was sagte mir mein Bauchgefühl?
Die Karten halfen mir dabei, zu reflektieren, mich selbst zu konfrontieren und herauszufinden, worauf ich hoffte und wovon ich träumte.
Und da war noch etwas anderes: Freundschaft.
Mit seinen Freundinnen zusammenzukommen und Karten zu legen, ist ein Akt des Vertrauens, der seinesgleichen sucht. Gemeinsam über die Zukunft zu spekulieren, einander von grossen Träumen und ebenso grossen Ängsten zu erzählen hat meine Freundschaften tiefer verwurzelt, als ich je geahnt hätte.
Durch das Kartenlesen lernte ich mich selbst sowie auch meine Freundinnen besser kennen. Das ist es, was das Kartenlesen für mich bedeutet.
Ob Tarot, Lenormand oder sonst ein Kartenset. Ich glaube, dass das Kartenlesen das Potenzial hat, uns zu zeigen, wie wir unser Leben mit mehr Intention leben. Sei dies, um unseren eigenen Weg zu finden oder um den Weg unserer Mitmenschen zu erkennen und zu verstehen.
Ich weiss, dass viele Menschen nicht dieser Meinung sind, was den Zweck des Kartenlesens angeht. Dass einige möglicherweise sogar darauf pochen, es gäbe keine Meinung zu Tarot – nur eine richtige oder falsche Art, die Karten zu handhaben. Das kann ich verstehen. Aber meine Realität sieht anders aus.
Meine Realität liegt viel näher an jener der Frauen mit den gehäkelten Pilzmuster-Kopftücher. Das Kartenlesen dient für mich keinem spirituellen Ziel, sondern ist viel mehr ein Ritual der Reflexion, Freundschaft und Empathie. Das bedeutet nicht, dass das spirituelle Kartenlesen nicht auch seinen Platz in der Welt haben sollte. Aber ich bin froh, dass das Tabu um Tarotkarten so schleichend und unscheinbar gebrochen wird. Mit Picknickdecken, luftigen Röcken und lachenden Gesichtern öffnen diese neugierigen jungen Frauen die Welt der Tarotkarten für Menschen, die sie vielleicht noch nie auf diese Art gesehen haben.
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