Warum Perfektionismus nichts mit dem Wunsch nach Perfektion zu tun hat
- Michelle Fischer

- 22. Mai
- 3 Min. Lesezeit
Ich glaube, Perfektionismus gehört zu den am meisten missverstandenen Begriffen überhaupt. Zumindest ist es mir erst sehr selten passiert, dass jemand wirklich verstanden hat, was ich meine, wenn ich sage, ich bin Perfektionistin.
Wir verwenden den Begriff gerne als Label für Menschen, die überperformen. Menschen, denen "gut" nicht reicht, die sich über "19 von 20 Punkten" bei einer Prüfung aufregen, und die sich für ihre Unordnung zu Hause entschuldigen, auch wenn diese nicht existiert. Wir verwenden den Begriff bei Vorstellungsgesprächen, wenn die Interviewerin fragt, was denn unsere grösste Schwäche sei. "Ich bin ein bisschen perfektionistisch", sagen wir, denn wer würde nicht jemanden einstellen wollen, der zu genau, zu fokussiert auf Qualität ist?
Nur, so funktioniert Perfektionismus nicht.
Perfektionismus ist nicht die Extrameile, die man geht, um aus etwas Gutem etwas Umwerfendes zu machen. Er ist nicht der letzte fehlende Punkt bei einer bereits sehr gut bewerteten Prüfung oder das eine staubige Regal in der sonst blitzblanken Wohnung.
Perfektionismus ist nicht das Streben nach Perfektion, sondern der Versuch, sich irgendwie über Wasser halten.
Menschen mit perfektionistischen Tendenzen verbringen bekannterweise gerne mal eine kleine Weile damit, gewisse Aufgaben korrekt auszuführen. E-Mails werden vor dem Verschicken doppelt und dreifach überprüft, ein Projekt erhält Woche für Woche noch "den letzten Schliff". Eines meiner Lieblingsbeispiele dazu ist J.R.R. Tolkien. Wenn man der Geschichte glauben will, überarbeitete er Der Herr der Ringe so oft, dass sein Verleger ihn schliesslich dazu überreden musste, das Manuskript fertigzustellen und zur Veröffentlichung freizugeben.
Für mich als Perfektionistin ist dieses exzessive Arbeiten, Überarbeiten und Nochmal-Neu-Beginnen die Antwort auf ein Gefühl, das mich ständig begleitet: Es ist noch nicht gut genug. Nicht etwa, weil es noch nicht perfekt ist. Perfektion ist nicht das Ziel – das ist sie nie. Ich möchte einfach nur etwas kreieren, das genügt.
In dem Sinne fühlt sich Perfektionismus oft gar nicht an wie Perfektionismus.
Wenn ich ewig an Details herumfummle und meine Arbeit zum fünften Mal überarbeite, merke ich oft gar nicht, dass ich mich gerade perfektionistisch verhalte. Alles, was ich sehe, ist eine unfertige Arbeit, die noch nicht gut genug ist. Nicht, weil ich einen unmöglich hohen Standard für mich gesetzt hätte, sondern weil sie schlicht nicht gut ist. So fühlt es sich zumindest an.
Ich male mir aus, wie andere Leute meine Arbeit wohl sehen könnten, wo sie die Nase rümpfen und an welchen Stelle sie sich fragen, wer das wohl gemacht hat. Dann gehe ich nochmals alles durch und versuche, dies und jenes zu verbessern. Und wenn mir dann mittendrin jemand über die Schultern schaut und mir sagt, das sei schon gut so, denke ich, dass das nicht sein kann. Alles, was ich sehe, sind meine Fehler.
Ich versuche also nicht, perfekte Ergebnisse zu erzielen. Daran denke ich gar nicht. Ich möchte nur irgendwie genügen.
Und ich glaube, dieses Sentiment begleitet viele Menschen, die perfektionistische Tendenzen haben. Egal, ob der Perfektionismus wie bei mir im Zusammenhang mit Leistung auftaucht, oder in Verbindung mit dem eigenen Körperbild, bei sozialen Interaktionen oder sonstwo. Schlussendlich – das ist zumindest meine Erfahrung – steckt hinter dem Perfektionismus oftmals einfach nur der Wunsch, gut genug zu sein.
Nur ist es eben leider so, dass ständiges Überarbeiten und Verbessern einem dieses Gefühl nicht geben können. Tatsächlich füttern diese Dinge denselben Teufelskreis, der uns überhaupt erst glauben lässt, nicht gut genug zu sein. Denn je mehr wir glauben, etwas verbessern zu müssen, um eine gute Leistung zu erzielen, desto mehr verstärken wir den Glaubenssatz, dass ein regulärer Aufwand bei uns einfach nicht ausreicht. Dass wir erst dann gut genug sind, wenn wir mehr investieren als alle anderen.
Die Antwort auf die Frage, wie man sich endlich "gut genug" fühlen kann, ist daher um einiges unbequemer.

Der Perfektionismus lebt von unserer Angst vor Fehlern. Wir überarbeiten und überarbeiten, um Fehler möglichst zu vermeiden – denn was, wenn diese Fehler unser wahres Gesicht zeigen? Was, wenn wir entdecken, dass wir tatsächlich einfach nicht gut genug sind?
Aber, um eine Angst zu besiegen muss man ihr bekanntlich direkt ins Gesicht schauen. Als Perfektionisten müssen wir daher so viele Fehler wie möglich machen.
Versende E-Mails, ohne sie zu überprüfen, lass dein Essay unbearbeitet, und leg den Pinsel weg, sobald deine Leinwand keine weissen Flächen mehr hat. Erteile dir selbst die Erlaubnis, einfach mal nicht gut zu sein – und dabei zu merken, dass die Welt nicht untergeht. Dass deine Arbeitskolleginnen dich immer noch respektieren, auch wenn du deine letzte E-Mail mit "Liebe Grüse" beendet hast. Dass deine Freunde dich nicht plötzlich für eine schlechte Künstlerin halten, weil bei deinem letzten Gemälde nicht allen klar ist, was es darstellen soll.
Fehler zu machen ist weder einfach noch angenehm. Aber es ist auch nicht das Ende der Welt. Und es ist der mit Abstand beste Weg, um perfektionistische Denkmuster zu besiegen. Um zu merken, dass wir schon immer gut genug waren.



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