Von Disziplin, Selbstliebe und vieläugigen Monstern
- Michelle Fischer
- 23. Apr.
- 5 Min. Lesezeit
Ich muss zugeben, meine erste Begegnung mit der Disziplin war keine besonders angenehme. Sie tauchte in meinem Leben auf, ohne dass ich sie darum gebeten hatte. Eines Tages stand sie einfach da, mitten in meinem Zimmer, wie ein kafkaeskes Ungeziefer. Ein hässliches Ding, mit Fühlern und viel zu vielen Beinen, mit dem ich von nun an zusammenleben musste.
Ich war damals etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt und hatte gerade den Wechsel von der Grundschule ins Gymi hinter mir. "Ein bisschen mehr Disziplin würde dir gut tun", hiess es in dieser Zeit von allen Seiten. Man stellte sie mir vor die Nase, überreichte sie mir wie ein Geschenk. Ich starrte sie an, ihre langen Arme und Beine, das ausdruckslose, vieläugige Gesicht, und wusste nicht, was ich mit ihr anfangen sollte.
Aber ich merkte, dass sich wegen ihr gerade alles veränderte.
Wo früher abwinkend gelacht wurde, wenn ich nach der Schule nicht direkt meine Hausaufgaben erledigte, runzelten meine Eltern jetzt die Stirn. Mathe war plötzlich schwierig anstatt interessant. Und im Unterricht hatte das gelegentliche Nicht-Aufpassen und Zettelchen-Schreiben nun ganz andere Konsequenzen als blosse Ermahnungen. Schlechte Noten prasselten auf mich ein, bevor ich wusste, wie mir geschah.
Ich beobachtete meine Klassenkameradinnen und stellte fest, dass die nicht nur bessere Noten als ich hatten, sondern offenbar auch schon lange wussten, wie sie mit ihrer Disziplin umgehen mussten. Für sie schien die Disziplin kein Ungeziefer zu sein, sondern jemand, der bei den Matheaufgaben helfen konnte. Während ich mich vor ihrem Aussehen ekelte und sie in eine Zimmerecke verbannt hatte, verbrachten meine Klassenkameradinnen regelmässig Zeit mit ihr.
Also gut, dachte ich mir. Das kann ich auch.
Ich krempelte die Ärmel zurück und schüttelte der Disziplin die Hand. Schön, dich kennenzulernen.
Nach der Schule gab es bald kein Faulenzen mehr, sondern noch mehr Schule. Ich klemmte mich hinter die Bücher, ich lernte Englisch-Vokabeln, Mathe-Formeln, Latein-Ablativ, Französisch-Subjonctif, Schiller, Goethe, Freud, Nietzsche, Mitochondrien sind die Kraftwerke der Zelle. Ich holte meine Disziplin aus der Verbannung und liess sie nicht mehr los.
Wir arbeiteten, arbeiteten, arbeiteten, und einige meine Noten wurden besser. Andere nicht. An jede Fünf reihte sich eine Drei, die ich mit einer weiteren Fünf kompensieren musste. Es war ein Durchdrücken und Strampeln mit knappen Ergebnissen und vielen Tränen. Und je älter ich wurde, desto krampfhafter musste ich treten.

Mit Sechzehn hatte Disziplin für mich eine völlig neue Bedeutung gewonnen. Vom einstigen Ungeziefer in einer dunklen Ecke meines Zimmers hatte sie sich zu einer unübersehbaren Präsenz im Raum entwickelt. Dort stand sie, gross und einschüchternd, mit ihrem mahnenden Finger und im ständigen Singsang. "Das reicht noch nicht, das reicht noch nicht, das reicht noch nicht".
Disziplin waren diese manischen zwei Stunden, in denen ich mich spät abends dazu aufraffte, mir auch noch die letzten zehn Seiten des Stoffes einzuprägen, damit ich am nächsten Tag bei der Chemieprüfung nicht durchfiel. Disziplin bedeutete, dass ich dranblieb, auch wenn ich nicht mehr konnte. Disziplin war, mir einzureden, dass Erschöpfung Faulheit ist.
Mit Siebzehn folgte schliesslich die vollkommene Erschöpfung. Ich boxte mich noch bis zu meinem Schulabschluss durch und quälte mich durch ein Journalismus-Praktikum.
Danach wollte ich mit Disziplin nichts mehr zu tun haben.
Jetzt reicht's, sagte ich mir, als ich mich mit Zweiundzwanzig nach jahrelangem Ringen gerade so aus den Fängen der Depression befreit hatte. Jetzt reicht's. Ich bin wichtiger als meine Leistungen. Ich komme zuerst. Zur Hölle mit dieser Leistungsgesellschaft, mit diesem Niemals-Genug-Sein, mit dieser ständigen Glorifizierung des Sich-Überarbeitens. Ich will nichts mehr damit zu tun haben. Niemals wieder, vielen Dank auch.

Ich verbannte die Disziplin zurück in ihre dunkle Zimmerecke und praktizierte radikale Selbstakzeptanz und Selbstliebe. An der Uni erlaubte ich mir, weniger Module zu buchen als meine Mitstudierenden. Ich liess Vorlesungen und Prüfungen ausfallen, wenn es mir zu viel wurde. Ich achtete gut darauf, mich nicht zu überarbeiten.
Aber ganz ohne Disziplin verlernt man die Selbstliebe mit der Zeit eben auch.
Wie ich einige Jahre später bemerken würde, ist ein Laissez-faire-Ansatz auch nicht der beste Umgang mit Leistung. Besonders für mein Selbstbild war er, je mehr Zeit verging, alles andere als gesund. Wenn wir uns nämlich zu nichts mehr durchringen müssen, vergessen wir Stück für Stück, wozu wir eigentlich fähig sind.
Jede Prüfung, die wir nicht angehen, bleibt unüberwindbar. Und je länger wir nur das Minimum von uns verlangen, desto wahrscheinlicher wird es, dass wir eines Tages glauben, dieses Minimum sei unser Limit. Dann ist es unglaublich einfach, zu vergessen, dass wir wachsen können. Dann stehen wir still. Und das mit der Selbstliebe ist plötzlich nicht mehr so einfach.
Die Disziplin ist also nicht der Bösewicht in dieser Geschichte. So sehr ich mich in meiner Schulzeit vor ihrem Gesicht erschrocken habe, so sehr ich mich mit ihr quälte – ganz ohne sie geht es eben auch nicht.
Aber wo liegt die Grenze zwischen der Disziplin, die uns wachsen lässt, und der Disziplin, die uns zerstört?
Ich glaube, dass unser kollektives Verständnis von Disziplin eines ist, das uns leicht in selbstdestruktive Muster verschlagen kann. Leistung hat in unserer Gesellschaft einen hohen Stellenwert, und das schon im frühen Alter. Als Kinder zerrt man von allen Seiten an uns. Mathe, Sport, Deutsch, Englisch, Musik, Zeichnen. Wir werden gemessen und vergliechen und dazu ermahnt, unser Bestes zu geben, wenn wir im Leben etwas erreichen wollen.
Unter diesen Umständen scheint es naheliegend, weshalb manche von uns so streng mit sich selbst umgehen. Die eigenen Wünsche und Bedürfnisse können warten, wenn es darum geht, sich ein gutes Leben zu schaffen, nicht wahr?
Nur schaffen wir auf diese Art und Weise genau die vieläugigen Ungeziefer, vor denen wir uns später fürchten.
Am Ende ist die Disziplin das, wozu wir sie machen. Eine vielbeinige Kreatur, eine angsteinflössende Gestalt mit mahnendem Finger – eine Verbündete?
In ihrer wohl gesündesten Form erfordert sie ein hohes Mass an Gleichgewicht. Selbstbeherrschung und Verzicht gehen Hand in Hand mit Erholung und Belohnung. Anstatt uns wiederholt bis an unsere Grenzen zu treiben, streben wir danach, ein langfristiges Verhältnis mit der Disziplin aufzubauen. Kleine Schritte, aber regelmässig. Sanft aber bestimmt.
In dieser Form gleicht die Disziplin schliesslich sogar einer Liebeserklärung an uns selbst.
Immerhin ist sie ein Produkt davon, dass wir an uns und unsere Fähigkeiten glauben. Wenn wir nicht davon überzeugt wären, dass wir ein besseres Leben verdient hätten, würden wir auch nicht danach streben.
Jedes Mal, wenn wir uns zu etwas durchringen, demonstrieren wir deshalb einen bemerkenswerten Glauben in uns selbst. Der Glaube, dass wir wachsen können, wenn wir das denn nur wollen. Die Überzeugung, dass wir etwas durchziehen können, wenn wir nur dranbleiben.
Insofern denke ich, dass es zu den zentralen Aufgaben im Leben gehört, mit seiner Disziplin Freundschaft zu schliessen. Denn gemeinsam, so scheint es mir, sind wir unaufhaltsam.
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